In einem gestern in der TA erschienen Artikel (€) wurde geschrieben, dass die Polizei am Erfurter Anger drei neue Live-Videokameras installieren möchte. Uns macht das Sorgen. Nicht wegen der Kameras, sondern wegen der Debatte darum.
Der Artikel erörtert, dass eine Kamera sich auf den REWE am Anger (OSM) ausrichten solle, weil dieser regelmäßiges Ziel von Ladendiebstählen sei. Wo die anderen Kameras angebracht würden und wann sie in Betrieb gehen, sei noch nicht absehbar. Oberbürgermeister Andreas Horns (CDU) Ziel, sie bis Ende 2024 zum Laufen zu bekommen, sei nicht erreicht worden (Tagesschau). Die Technik soll laut Horn im Angermuseum untergebracht werden (MDR). Die Bürger*innen sollen erkennen können, ob die Überwachung läuft (TA(€)).
In anderen Worten ist die Installation nur noch eine Frage der Zeit.
Anger und Bahnhof als „gefährliche Orte“
Der Erfurter Anger und der Hauptbahnhof sind sogenannte kriminogene Orte, also ‚gefährliche Orte‘ nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Thüringer Polizeiaufgabengesetz (ThPAG). Das ergibt sich aus einer kleinen Nachfrage der Linkspartei im Thüringer Landtag 2020: Drucksache 7/1531. An solchen „gefährlichen Orten“ darf die Polizei anlasslose Identitätsfeststellungen durchführen.
Zwar wird in der Anfrage aus 2020 auch die Magdeburger Allee gelistet, diese ist aber laut eines TA(€)-Artikels aus 2023 nicht mehr als „dauerhaft gefährlicher Ort“ eingestuft gewesen. Aber auch das hat sich laut TA(€)-Artikel letztes Jahr wieder geändert.
In Erfurt sind damit also der Bahnhof, Anger und die Magdeburger Allee konkret betroffen (Karte via OpenStreetMap).
Die Begründung
Die Polizei bewertet jährlich anhand der Kriminalstatistik die Lage neu (MDR). Außerdem gab es 2023 ein Gutachten des Rechtsamtes der Stadt Erfurt, das die Installation der Kameras grundsätzlich für machbar hält (MDR), von einer Begründung mit Abschreckungswirkung oder zur Kriminalprävention rät dieses aber ab. Eine Video-Überwachung müsse zumindest ein schnelleres Eingreifen der Beamten zur Folge haben.
Unsere Position
Wir halten die neu eingeführte Videoüberwachung am Erfurter Anger für unwissenschaftlichen Quatsch, die öffentlichen Begründungen der verantwortlichen Politiker*innen für untragbar, eine mögliche KI-Integration für gefährlich und gewichten die Persönlichkeitsrechte tausender Unschuldiger – täglich! – als deutlich höher. Aber Eins nach dem Anderen:
1. völlig Unwissenschaftlicher Quatsch
Unstrittig ist: Auf dem Anger werden mehr Straftaten durch die Polizei registriert:
- 2017 (Ernennung zum gefährlichen Ort): 1.397 Straftaten (Die Linke)
(die Angaben für 2020 & 2021 sind durch Corona verzerrt)
2022: 1.494 Straftaten (TA)
2023 (bis November): 1732 Straftaten (TA)
Allerdings kritisieren beispielsweise die Grünen im Erfurter Stadtrat in ihrer Pressemitteilung diese Statistik damit, dass es hauptsächlich um Ladendiebstahl und Schwarzfahren ginge. Genauso die Linksfraktion in wiederum ihrer Pressemitteilung, welche die Zahl der Leistungserschleichungen auf etwa 100 pro Jahr beziffert.
Aus unserer Perspektive kommen noch weitere Faktoren hinzu:
- An was denkt ihr, wenn ihr an den Erfurter Anger denkt? An Straßenbahnen und extrem hohe Fluktuationsraten. Die polizeiliche Statistik wertet lediglich absolute Zahlen aus, lässt aber Faktoren wie eine höhere Straßenbahnnutzung (z.B. durch Deutschlandticket) oder eine wachsende Stadtbevölkerung völlig unbeachtet.
- Straftaten, die woanders nicht begangen werden können, darunter Ladendiebstahl und Schwarzfahren, werden nicht bereinigt.
- Durch die Einstufung als ‚gefährlicher Ort‘ gab es mehr Kontrollen und folglich stieg die Statistik entsprechend an. Zudem hat die Polizei nach der Einstufung zum ‚gefährlichen Ort‘ ihre Präsenz am Anger erhöht. Auch das wurde nicht statistisch bereinigt.
- Gesetzesverschärfungen, beispielsweise zu Widerstandhandlungen gegen Polizeibeamte, wurden ebenfalls nicht bereinigt.
Die Polizei sagt zwar, die Lage würde jährlich neu evaluiert. Sie sagt aber nicht, an welchen Kriterien sie das festmacht, sondern bezieht sich nur abstrakt auf diese völlig unzureichende Datenlage. Wenn schon in das Persönlichkeitsrecht tausender unschuldiger Erfurter*innen täglich eingegriffen wird, kann doch größtmögliche Transparenz nicht zu viel verlangt sein, oder?
2. Wirksamkeit der Maßnahme
„Die Videoüberwachung wird in der Regel ein gefährliches oder schädigendes Verhalten nicht verhindern können. Eventuell kann diese eine Abschreckungswirkung entfalten, wenn die Gefahr der Feststellung und Ahndung besteht. Da dies jedoch keine objektiv messbare Größe ist, kann allein die Verhinderung von XY die Überwachung nicht rechtfertigen.“
Wie schon vom Rechtsamt der Stadt Erfurt dargelegt, kann die Live-Videoüberwachung nicht mit einem Argument der Täteridentifizierung oder Abschreckung begründet sein (MDR). Wenn dann aber im Wahlkampf groß mit „Sicherheit“ von Seiten bestimmter Parteien geworben und dieser Punkt mit der Videoüberwachung am Anger begründet wird, wie hier bei der Erfurter SPD, dann kann das nur als Rattenfang zu verstehen sein:
Sicherheit auf dem Anger: Wir stehen dafür ein, die Planungen zur Kameraaufzeichnung für den Innenstadtbereich, öffentliche Plätze und insbesondere den Anger im Rahmen eines Gesamtkonzeptes „Ordnung und Sicherheit“ konsequent umzusetzen.
3. Studienlage
Umso abstruser wird die Forderung, wenn wir uns jetzt die Studienlage zu dem Thema anschauen. Glücklicherweise hat Digitalcourage schon 2017, als der Erfurter Anger zur kriminogenen Zone ernannt wurde, eine Zusammenfassung veröffentlicht. Das erklärt dann auch, warum das Rechtsamt von den genannten Sicherheitsversprechen abrät:
- Peter Ullrich & Marco Tullney, 2012: Insb. bei Drogendelikten Verlagerungseffekte nicht ausgeschlossen
- Thomas Feltes, 2016: Fokussierung der Polizei auf Randgruppen und Behinderung von Präventionsarbeit bei diesen
- Dominic Kudlacek, 2015: Nutzen der Überwachung aufgrund vieler Faktoren z.B. bei Ladendiebstahl einzelfallabhängig (Kriminalitätsdichte nur 1 Faktor)
- Stephan Ackerschott, 2013: Präventionseffekt nicht nachweisbar
- Menschen verhalten sich angepasster, wenn sie überwacht werden (taz)
Das ist nur ein Auszug der Studienlage, macht aber deutlich, dass es auch unerwünschte Effekte durch Videoüberwachung gibt. Und wenn wir uns die Schwerpunkte der Überwachung in Erfurt anschauen, nämlich buchstäblich einen Eingang zum REWE wegen Ladendiebstählen, dann fällt uns auf, dass diese Läden und Märkte bereits videoüberwacht sind. Lediglich ist es keine Live-Videoüberwachung und wird von den Unternehmen selbst betrieben.
Wenn die Polizei nicht permanent am Anger wäre, würde die Live-Videoüberwachung keinen Effekt auf das Eingreifen der Beamten haben und wäre damit rechtswidrig. Und wenn die Polizei doch permanent auf dem Anger hockt, dann braucht es auch die Videoüberwachung nicht: Sie sind ja schon da.
Uns erschließt sich daher nicht, wie das bei der Identifizierung oder Sachverhaltsklärung helfen soll.
Eher machen wir uns Sorgen, weil eine anlasslose Kontrolle der Identitätsdaten natürlich vor allem Geflüchtete trifft. Wir haben schon einen der rassistischsten Bahnhöfe in Deutschland (Radio F.R.E.I.). Brauchen wir das auch noch?
4. Künstliche Intelligenz
Schade finden wir zudem, dass wir uns mit solch ideologischen Nonsens befassen müssen, statt dass wir beim Thema ‚Sicherheit‘ über die sozioökonomische Verbindung von Kriminalität und Armut reden und wie wir dieses Problem lösen wollen. Stattdessen werden in der öffentlichen Debatte Begriffe wie ‚KI‘ in den Raum geworfen (TA). Die ist ja zum Glück momentan weder rassistisch, noch wären KIs für ihre Fehler oder ihre Unfähigkeit Dinge zu begreifen, bekannt…
Und wenn Maiers (SPD) Innenministerium schreibt, dass sie mit dieser Technik Personal am Anger einsparen wollen, fühlen wir uns ohne die Videoüberwachung offen gestanden sicherer als damit.